Die Stahlindustrie in der EU steht vor der Herausforderung eines Strukturwandels. Treibende Kraft sind die Veränderungen in der Automobilindustrie. Druck entsteht jedoch auch von außen: Zunehmende Importe aus Nicht-EU-Ländern verschärfen die Situation durch eine straffere Preispolitik. Die derzeitige Coronapandemie erschwert die Lage zusätzlich. Wie Händler und Servicedienstleister die fertigende Industrie in Krisenzeiten unterstützen, weiß Bernd Seibold, Geschäftsführer von Günther + Schramm.
Veröffentlicht: August 2020
Zwischen Januar und Oktober 2019 ging die Stahlproduktion in der EU um 3,6 Prozent zurück – so schreibt das Handelsblatt. Ein Grund ist sicherlich die Unsicherheit in der Automobilindustrie. Insbesondere die Zulieferer erhalten weniger Aufträge, dementsprechend wird auch weniger Rohmaterial nachgefragt. Eine ähnliche Situation hat die Stahlindustrie bereits erlebt: In den 1950er, 1960er und 1970er Jahren hatte die rasant steigende Automobilproduktion den Eisenbahnbau abgelöst. In den 1980er Jahren kam der Niedergang des europäischen Bergbaus hinzu. Außerdem machte sich in den frühen 1980er Jahren die einsetzende Schiffbaukrise bemerkbar. Die Folge: Die abnehmende Nachfrage und die gleichzeitige Weiterentwicklung der Produktionsmethoden führten zu einer enormen Überproduktion. Der zunehmende Einsatz von Ersatzmaterialien, etwa keramischen Werkstoffen oder Kunststoffen, steigerte das Absatzproblem noch. Günther + Schramm als führender Systemdienstleister für Stahl, Edelstahl und Aluminium feiert in diesem Jahr sein 90-jähriges Firmenjubiläum und hat all diese Entwicklungen miterlebt. Aufgrund der aktuell schwierigen Lage durch die Coronakrise und der zu erwartenden wirtschaftlichen Rezession kommt nun auf das Handelshaus mit seinen Kunden aus der Fertigungsindustrie eine ganz neue Situation zu. Da es bisher keine vergleichbare Entwicklung gab, sind auch die Herausforderungen, denen sich Unternehmen gegenübersehen, unklar. Doch wie können Dienstleister ihre Kunden insbesondere in herausfordernden Situationen aktiv unterstützen?
Der Beschaffungsmarkt an sich wird zunehmend globaler. „Die Globalisierung hat auf den Stahlmarkt mittlerweile größere Auswirkungen als noch vor zehn oder 20 Jahren.“ Bernd Seibold, Geschäftsführer der Günther + Schramm GmbH: „Oft sind auch politische Rahmenbedingungen schwer abschätzbar. Dabei denke ich nicht nur an die derzeitige Coronapandemie, sondern auch an politische Entscheidungen wie den Brexit.“ Haben Kunden des Stahlhändlers Fertigungsbetriebe in Großbritannien, steht durch den Brexit die Frage im Raum, wie und zu welchen Bedingungen die Waren ins Land gelangen. „Was unsere Beschaffung angeht, haben wir uns früh um Alternativen gekümmert. Wir stehen unseren Kunden bei solchen Fragen jederzeit mit Rat und Tat zur Seite“, so Seibold.
Um mehr Kapazität und Fläche für das eigene Kerngeschäft zu schaffen und um eine Verbesserung der Kapitalrentabilität zu erreichen, entscheiden sich viele Unternehmen dafür, Arbeitsschritte outzusourcen. „Die Nachfrage nach Dienstleistungen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Unsere Kunden bestellen immer mehr auftragsbezogen und nicht für das eigene Lager. In den letzten 15 Jahren hat das Just-in-time-Geschäft nochmal maßgeblich an Fahrt aufgenommen“, erklärt Seibold. Im Ergebnis liegt weniger gebundenes Kapital im Lager. Große Firmen setzen zudem auf wenige Lieferanten, die die gefragten Dienstleistungen vollumfänglich abdecken. Ein Bereich, der sich einfach auslagern lässt, ist die Materiallogistik. Entfällt diese im Unternehmen, übernimmt der Dienstleister die Kosten und das Handling. Auch mechanische Arbeitsschritte, wie das Entgraten von Material, werden oftmals ausgelagert. „Neben der Anarbeitung gehört eine ausgefeilte Material- und Prozesslogistik zu unserem Angebotsspektrum. Durch Lageroutsourcing, elektronische Datenverarbeitung und kundenspezifische Verpackungslösungen ermöglichen wir unseren Kunden eine erhebliche Steigerung der Prozesseffizienz“, erklärt Bernd Seibold.
Der Strukturwandel Mitte des letzten Jahrhunderts hat nicht nur die Nachfragesituation verändert, auch die Branche an sich ist eine andere: Im Fokus der Händler steht heute viel mehr als damals der Wunsch des Kunden. War das Material rar, entschied letztlich der Händler, wer es für welchen Preis erhielt. „Heute ist der Kunde derjenige, der mit seinen Anforderungen die Vorgaben macht. Unser Ziel ist es, als Dienstleister bestmöglich zu unterstützen“, so Seibold. „Dazu gehört auch die gemeinsame Entwicklung einer langfristigen Partnerschaft. Je mehr Informationen wir vom Kunden erhalten, desto effektiver können wir unsere Dienstleistungen individualisieren.“ Besteht ein reger Austausch zwischen Kunde und Dienstleister, kann der Händler mithilfe seiner detaillierten Marktkenntnis als strategischer Partner die Fertigungsbetriebe gezielt beraten, um Rohstoffe just in time zur Verfügung zu stellen. Günther + Schramm hat sich an die Anforderungen und die Nachfrage angepasst: Verändert hat sich das Materialsortiment ebenso wie das Angebot der Dienstleistungen. Der Systemdienstleister ermöglicht heute eine breite Palette vom Sägen, Entgraten und Anfasen übers Zentrieren und Waschen bis hin zum Bohren und zu vielem mehr. Darüber hinaus übernimmt Günther + Schramm auch die Materiallogistik für seine Kunden. „Für uns als Dienstleister und Beschaffer ist es zudem wichtig, Sicherheitsbestände für die Kunden aufzubauen. Je nach Materialverfügbarkeiten heißt es dabei, frühzeitig weitere Lieferquellen zu akquirieren“, fügt Seibold hinzu.
„Wichtig ist für uns, über die Dienstleistungen hinaus Lösungen anzubieten, die Prozesse vereinfachen“, erläutert Seibold. „Wir haben für unsere Kunden bereits vielfältige Maßnahmen zum Bürokratieabbau und zur Komplexitätsreduktion entwickelt, darunter einen komplett elektronischen Bestell- und Lieferdatenaustausch, der die potenziellen Fehlerquellen papiergebundener oder telefonischer Bestellungen eliminiert.“ Die optimierte Abwicklung sorgt nicht nur für eine Entlastung des Personals, sondern steigert auch die Effizienz und minimiert die Prozesskosten. „Unsere Kunden initiieren eine Bestellung entweder manuell oder sie erfolgt automatisch nach Erteilung eines Fertigungsauftrages“, erklärt Seibold. Die Bestellinformationen werden anschließend sofort im ERP-System erfasst und der Lieferant informiert. Das System des Lieferanten bestätigt automatisch die Bestellung, wobei die Übertragung der Daten 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche möglich ist. Der Kunde erhält nach Lieferung der Ware einen Datensatz, der auf Wunsch automatisch den Wareneingang vormerkt. Zudem wird der Kunde direkt über den Eingang der Rechnung informiert und kann diese abschließend auf Plausibilität prüfen. Mit Blick auf immer komplexer werdende Beschaffungsvorgänge und die geforderte Flexibilität bei oftmals kleinen Losgrößen überzeugt eine effektive elektronische Projektabwicklung wie diese. Mit Lösungen, die einen Prozess nachhaltig entschlacken, erhält der Kunde einen hohen Mehrwert.
IT-Lösungen wie EDI stehen beispielhaft für die Vereinfachung von Prozessen durch digitale Lösungen. Für Handelshäuser und ihre Kunden eröffnen sich dadurch neue Möglichkeiten: Frei werdende Ressourcen können im Kerngeschäft eingesetzt werden. Das sind nicht nur in Krisenzeiten wichtige Voraussetzungen. Der ehemals ausschließliche „Verkäufer“ im Stahlhandel wird zum strategischen Berater und Partner, der die Materialienmärkte genau kennt und die Unternehmen gezielt dabei unterstützen kann, Rohstoffe zeitgerecht zur Verfügung zu stellen und Prozessketten zu optimieren. Reine Verkaufspreise von Materialien prüfen und Bestellungen aufnehmen und bearbeiten – diese Tätigkeiten übernehmen mittlerweile IT-Lösungen. „Wichtig ist für uns auf Seiten des Dienstleisters vielmehr, dass wir die Risiken für unsere Kunden im Auge behalten und frühzeitig die richtigen Maßnahmen in Angriff nehmen“, so Seibold abschließend. „Dazu gehört auch ein Risikomanagement, das frühzeitig auf Alarmzeichen reagiert und die komplette Supply-Chain auch in schwierigen Zeiten absichert.“